Haben Sie sich jemals gefragt, ob Sie rechtlich belangt werden könnten, wenn Ihnen eine gefährliche Situation bekannt ist, Sie aber nicht handeln? Viele Menschen stehen vor der Herausforderung, was zu tun ist, wenn sie von einem drohenden Schaden wissen, aber unsicher sind, wie sie reagieren sollen. Ein bemerkenswertes Urteil des Bundesgerichtshofs bietet in solchen Fällen Klarheit und könnte Ihnen helfen, eine rechtlich fundierte Entscheidung zu treffen, wenn Sie sich in einer ähnlichen Lage befinden.
1 StR 675/99 Mord durch Unterlassen
Fallübersicht
Konkrete Situation
In diesem Fall ging es um ein Ehepaar, das als Pflegeeltern von insgesamt sechs Kindern tätig war, darunter drei eigene und drei Pflegekinder. Die Pflegekinder wurden von den Beklagten über Jahre hinweg misshandelt, indem sie ihnen systematisch Nahrung vorenthalten und sie körperlich misshandelt haben. Die Misshandlungen führten zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden bei den Pflegekindern, bis schließlich eines der Kinder an den Folgen der Unterernährung verstarb. Die Beklagten versuchten, die Misshandlungen zu verbergen, indem sie die betroffenen Kinder von der Außenwelt abschotteten. Das Ziel war es, eine strafrechtliche Verfolgung zu vermeiden, da sie befürchteten, ihre vorausgegangenen Taten könnten aufgedeckt werden.
Kläger (Pflegekinder)
Die Kläger in diesem Fall sind die überlebenden Pflegekinder. Sie behaupten, dass die Beklagten ihrer Verantwortung als Pflegeeltern nicht gerecht wurden und ihre Gesundheit sowie ihr Leben gefährdet haben. Sie argumentieren, dass die Misshandlungen, die sie erlitten haben, absichtlich verdeckt wurden, um eine strafrechtliche Verfolgung zu verhindern.
Beklagte (Pflegeeltern)
Die Beklagten, das Ehepaar, erklären, dass sie die Situation nicht vollständig unter Kontrolle hatten und bestreiten einen direkten Tötungsvorsatz. Sie behaupten, dass die Umstände, wie etwa ihre persönliche Krise, zu einem Verlust der Kontrolle führten. Sie gaben an, dass sie nicht beabsichtigt hatten, den Tod eines Kindes herbeizuführen, sondern die Situation falsch eingeschätzt haben.
Urteil
Die Beklagten verloren den Fall. Das Gericht befand, dass die Beklagten des Mordes durch Unterlassen schuldig sind. Sie wurden zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass die Beklagten bewusst die gesundheitliche Verschlechterung der Kinder in Kauf genommen haben, um ihre vorangegangenen Straftaten zu verdecken. Darüber hinaus wurde entschieden, dass die Beklagten die Kosten des Verfahrens sowie die erforderlichen Auslagen der Kläger zu tragen haben.
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StGB § 211 Abs. 2
§ 211 des Strafgesetzbuches (StGB) befasst sich mit dem Tatbestand des Mordes. Absatz 2 listet die Mordmerkmale auf, darunter die Verdeckungsabsicht. Diese liegt vor, wenn der Täter eine Tötung begeht, um eine andere Straftat zu verdecken. Im vorliegenden Fall hatten die Angeklagten die Absicht, die jahrelangen Misshandlungen der Pflegekinder zu verschleiern. Diese Verdeckungsabsicht spielte eine zentrale Rolle bei der Beurteilung ihres Handelns als Mord.
StGB § 13 Abs. 1
§ 13 Abs. 1 StGB behandelt das Unterlassen als Begehungsart im Strafrecht. Es legt fest, dass eine Straftat auch durch Unterlassen begangen werden kann, wenn eine rechtliche Pflicht zum Handeln besteht. Bei den Angeklagten bestand eine solche Pflicht, da sie als Pflegeeltern Garanten für das Wohl der Kinder waren. Ihre Unterlassung, ärztliche Hilfe zu holen, obwohl die Lebensgefahr erkennbar war, stellte eine Verletzung dieser Garantenpflicht dar.
StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1
§ 24 Abs. 1 des StGB regelt den strafbefreienden Rücktritt vom Versuch. Ein Rücktritt ist möglich, wenn der Täter freiwillig die Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Im Fall der Angeklagten wurde geprüft, ob ein Rücktritt vom Mordversuch durch das späte Herbeirufen eines Notarztes möglich war. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass kein strafbefreiender Rücktritt vorlag, da die Maßnahmen zu spät kamen und der Tod des Kindes nicht mehr verhindert werden konnte.
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Prinzipielle Auslegung
StGB § 211 Abs. 2
Der Mordtatbestand nach § 211 Abs. 2 StGB wird prinzipiell dann erfüllt, wenn eine Tötung mit der Absicht erfolgt, eine andere Straftat zu verdecken. Dabei ist es entscheidend, dass der Täter mit dem Tod des Opfers die Aufdeckung seiner vorhergehenden Straftaten verhindern will. Diese Absicht muss den Tötungsvorsatz begleiten, was bedeutet, dass der Täter bewusst oder zumindest billigend in Kauf nimmt, dass sein Handeln zum Tod führt, um die Verdeckung zu erreichen.
StGB § 13 Abs. 1
Gemäß § 13 Abs. 1 StGB ist bei Unterlassungsdelikten entscheidend, dass der Täter eine rechtlich gebotene Handlungspflicht verletzt. Diese Pflicht ergibt sich aus der sogenannten Garantenstellung, die den Täter verpflichtet, das Rechtsgut (hier das Leben der Pflegekinder) zu schützen. Eine solche Pflicht besteht insbesondere, wenn der Täter durch sein Vorverhalten eine Gefahr geschaffen hat, die er abzuwenden hat.
StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1
Im Kontext des Rücktritts vom Versuch nach § 24 Abs. 1 StGB ist prinzipiell zu beachten, dass ein freiwilliger Rücktritt vom Versuch möglich ist, solange der Täter noch nicht alles Erforderliche getan hat, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen. Dies setzt voraus, dass der Täter aus eigener Entscheidung und nicht durch äußere Umstände motiviert von der Tat ablässt.
Ausnahmeauslegung
StGB § 211 Abs. 2
Eine Ausnahme von der Verdeckungsabsicht liegt vor, wenn der Täter den Tod des Opfers nicht als notwendige Bedingung für die Verdeckung ansieht. In solchen Fällen kann auch ein bedingter Tötungsvorsatz gegeben sein. Es geht darum, dass der Täter die Möglichkeit des Todes zwar erkennt, aber nicht als sicher oder unabdingbar für die Verdeckung betrachtet.
StGB § 13 Abs. 1
Bei der Ausnahmeauslegung des Unterlassens wird berücksichtigt, dass der Täter trotz einer bestehenden Garantenpflicht unter bestimmten Umständen nicht für den Erfolg verantwortlich gemacht werden kann, wenn er diesen Erfolg nicht sicher abwenden konnte. Dies könnte der Fall sein, wenn das Unterlassen auf einer momentanen Überforderung oder einer objektiven Unmöglichkeit basiert.
StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1
Eine Ausnahme beim Rücktritt vom Versuch kann vorliegen, wenn das freiwillige Zurücktreten nicht mehr möglich ist, weil der Täter den Erfolgseintritt nicht mehr verhindern kann, selbst wenn er es will. Hier wird unterschieden, ob der Rücktrittshorizont des Täters noch eine effektive Erfolgsverhinderung erlaubt.
Angewandte Auslegung
Im vorliegenden Fall hat das Gericht die Prinzipien der Verdeckungsabsicht und des Tötungsvorsatzes in ihrer grundsätzlichen Form angewandt. Die Angeklagten handelten mit der Absicht, die vorherigen Misshandlungen der Pflegekinder zu verdecken, und nahmen dabei den Tod der Kinder zumindest billigend in Kauf. Die Verpflichtung zur Handlung als Pflegeeltern wurde in diesem Fall besonders hervorgehoben, weil die Angeklagten durch ihr Vorverhalten eine Lebensgefahr geschaffen hatten. Der Rücktritt vom Versuch wurde nicht anerkannt, da die Alarmierung des Notarztes zu spät erfolgte, um noch als freiwilliger Rücktritt gewertet zu werden. Die Annahme des Gerichts basierte auf der Tatsache, dass die Angeklagten den Tod des Kindes durch ihr bewusstes Unterlassen in Kauf nahmen, um ihre Handlungen zu verdecken.
Anwalt kämpft gegen Widerruf wegen Schuldenkrise (AnwZ (B) 24/99) 👆Verdeckungsmord Lösungsmethoden
1 StR 675/99 Lösungsmethode
In diesem Fall wurden die Angeklagten wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt, da sie die Pflegekinder nicht ausreichend versorgten und deren Gesundheitszustand verschleierten, um frühere Misshandlungen zu verbergen. Die Angeklagten verloren die Revision, was zeigt, dass der gewählte Weg der Verteidigung nicht erfolgreich war. Hätten sie erkannt, dass die Beweislage gegen sie überwältigend war, wäre es vielleicht besser gewesen, frühzeitig in ein umfassendes Geständnis zu gehen und mögliche mildernde Umstände, wie eine psychologische Betreuung, geltend zu machen. Eine solche Strategie hätte eventuell die Strafe mildern können, auch wenn sie den Schuldspruch nicht abgewendet hätte. In Fällen dieser Komplexität wäre die Unterstützung eines erfahrenen Strafverteidigers unerlässlich gewesen. Ein solcher hätte möglicherweise bessere Verhandlungsbedingungen mit der Staatsanwaltschaft erzielen können.
Ähnliche Fälle Lösungsmethoden
Pfleger vernachlässigt Kind ohne Vorsatz
In einem Fall, in dem ein Pfleger ein Kind unabsichtlich vernachlässigt, wäre eine proaktive Kommunikation mit den zuständigen Behörden ratsam. Der Pfleger sollte sofort Maßnahmen ergreifen, um die Situation zu verbessern und gegebenenfalls externe Hilfe in Anspruch nehmen. Sollte es zu einem rechtlichen Verfahren kommen, könnte eine Selbstanzeige und das Aufzeigen von Verbesserungsmaßnahmen positiv berücksichtigt werden. Hier wäre eine rechtzeitige rechtliche Beratung sinnvoll, um mögliche Strafen zu minimieren.
Pflegeeltern melden Misshandlung rechtzeitig
Wenn Pflegeeltern Misshandlungen rechtzeitig erkennen und melden, könnte dies strafmildernd wirken. In solchen Fällen wäre eine sofortige Benachrichtigung der Jugendämter und eine Kooperation mit den Behörden der beste Weg. Sollten die Pflegeeltern dennoch rechtlich belangt werden, würde die frühzeitige Meldung ihre Position stärken. In diesem Szenario könnte ein Anwalt helfen, die positiven Maßnahmen der Pflegeeltern hervorzuheben und die rechtlichen Konsequenzen zu minimieren.
Unzureichende Nahrung ohne verdeckte Absicht
Wenn Pflegeeltern aus Unwissenheit oder mangelnden Ressourcen unzureichende Nahrung bereitstellen, ohne eine verdeckte Absicht, sollten sie umgehend professionelle Beratung suchen. In einem rechtlichen Verfahren wäre es wichtig, die Bemühungen zur Verbesserung der Situation zu dokumentieren. Falls es zu einer Klage kommt, könnte eine außergerichtliche Einigung angestrebt werden. Ein Anwalt könnte hier helfen, die Missverständnisse zu klären und eine Einigung zu erzielen.
Dritte Person entdeckt Misshandlung rechtzeitig
Wird eine Misshandlung von einer dritten Person rechtzeitig entdeckt, sollten sowohl die Pflegeeltern als auch die entdeckende Person umgehend die Behörden informieren. Die Pflegeeltern könnten argumentieren, dass sie die Situation ohne die Entdeckung nicht erkannt haben, und sollten zeigen, dass sie bereit sind, alle notwendigen Änderungen vorzunehmen. Die Unterstützung durch einen Anwalt könnte helfen, die Verantwortung zu klären und sicherzustellen, dass die Pflegeeltern nicht unangemessen bestraft werden.
Verzinstes Schmerzensgeld ab Juli Was geschah im Februar (1 StR 502/00) 👆FAQ
Was ist Verdeckungsabsicht?
Verdeckungsabsicht liegt vor, wenn der Täter eine vorangegangene Straftat verbergen möchte, indem er eine weitere Straftat begeht, z.B. einen Mord, um die Entdeckung der ersten Tat zu verhindern.
Was ist Mord durch Unterlassen?
Mord durch Unterlassen liegt vor, wenn eine Person durch das Nicht-Handeln eine andere Person tötet, obwohl sie eine rechtliche Pflicht zum Handeln hat, z.B. als Sorgeberechtigter.
Wie wird Tötungsvorsatz festgestellt?
Tötungsvorsatz wird festgestellt, wenn der Täter den Tod einer Person bewusst in Kauf nimmt oder als sicher ansieht, dass sein Handeln oder Unterlassen zum Tod führt.
Welche Strafe droht bei Mord?
Bei einer Verurteilung wegen Mordes droht in Deutschland in der Regel eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Was ist ein pflichtwidriges Unterlassen?
Ein pflichtwidriges Unterlassen liegt vor, wenn eine Person es unterlässt, eine Handlung vorzunehmen, zu der sie rechtlich verpflichtet ist, und dadurch ein Schaden entsteht.
Wann liegt ein Rücktritt vom Versuch vor?
Ein Rücktritt vom Versuch liegt vor, wenn der Täter freiwillig und erfolgreich von seinem Vorhaben Abstand nimmt und den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs verhindert.
Welche Rolle spielt der Vorsatzgrad?
Der Vorsatzgrad bestimmt, ob der Täter mit direktem oder bedingtem Vorsatz handelt, was Einfluss auf die Strafbarkeit und das Urteil haben kann.
Wie wird Verdeckungsabsicht bewiesen?
Verdeckungsabsicht wird durch Indizien wie das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat, sowie durch Zeugenaussagen und mögliche Geständnisse bewiesen.
Welche Bedeutung hat die Garantenstellung?
Die Garantenstellung bedeutet eine rechtliche Pflicht zum Handeln, z.B. für Eltern gegenüber ihren Kindern. Bei Unterlassen kann dies zur Strafbarkeit führen.
Wie beeinflusst die Verdeckung die Strafe?
Die Verdeckung einer Straftat kann als Mordmerkmal gewertet werden und zu einer schwereren Strafe führen, da sie die Schwere der Tat erhöht.
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Geschwisterstreit um Hofstatus entfacht Familienkonflikt (BLw 5/00) 👆