Marktmacht auf dem Bau: Berliner Tariftreue in Frage (KVR 23/98)

Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Ihr Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge benachteiligt wird? Viele Unternehmen stehen vor ähnlichen Herausforderungen, insbesondere wenn es um die Einhaltung von Tariftreueerklärungen geht. Wenn Sie in einer solchen Situation stecken, könnte der Beschluss des Bundesgerichtshofs (KVR 23/98) Ihnen den Weg zu einer Lösung weisen, also lesen Sie ihn aufmerksam durch.

KVR 23/98 Marktstellung von Bauleistungen

Fallübersicht

Konkrete Situation

In diesem Fall geht es um die Praxis des Landes Berlin, Straßenbauaufträge nur an Unternehmen zu vergeben, die sich zur Einhaltung der geltenden Berliner Lohntarife verpflichten, bekannt als „Tariftreueerklärung“. Diese Vorgehensweise führte zu einem Konflikt, da das Bundeskartellamt darin einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot und das Prinzip des freien Wettbewerbs sah.

Kläger (Bieter von Bauleistungen)

Die Kläger, Bauunternehmen, die nicht tarifgebunden sind, behaupten, dass die Anforderung einer Tariftreueerklärung sie ungerechtfertigt diskriminiert. Sie argumentieren, dass diese Praxis ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt, da sie gezwungen werden, höhere Löhne zu zahlen, ohne tariflich dazu verpflichtet zu sein. Dies stellt für sie eine unfaire Benachteiligung im Wettbewerb dar.

Beklagter (Land Berlin)

Das Land Berlin verteidigt seine Praxis mit dem Argument, dass die Tariftreueerklärung notwendig sei, um einen fairen Wettbewerb und die Einhaltung sozialer Standards zu gewährleisten. Sie betonen, dass diese Maßnahme dazu dient, heimische Anbieter zu schützen und den Arbeitsmarkt zu stabilisieren.

Urteilsergebnis

Das Gericht entschied zugunsten der Kläger. Es wurde festgestellt, dass die Praxis des Landes Berlin, Tariftreueerklärungen ohne gesetzliche Grundlage zu verlangen, gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Das Land Berlin darf keine Straßenbauaufträge mehr ausschließlich auf Basis einer solchen Erklärung vergeben. Als Folge muss das Land Berlin seine Vergabepraxis ändern und kann die Abgabe einer Tariftreueerklärung nicht weiter als Voraussetzung für die Auftragsvergabe fordern.

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KVR 23/98 Relevante Rechtsvorschriften

GWB § 20 Abs. 1

Der Paragraph 20 Absatz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) befasst sich mit dem Verbot der Diskriminierung und Behinderung durch marktbeherrschende Unternehmen. Diese Regelung ist ein zentraler Punkt im Kartellrecht, der verhindern soll, dass Unternehmen, die eine dominante Marktstellung innehaben, ihre Macht ausnutzen, um andere Marktteilnehmer unbillig zu benachteiligen. Im vorliegenden Fall wurde diese Vorschrift herangezogen, um zu prüfen, ob das Land Berlin durch die Forderung nach einer Tariftreueerklärung andere Unternehmen unzulässig diskriminiert. Das bedeutet im Klartext: Wenn ein großes Unternehmen seine Macht ausspielt, um den Wettbewerb zu verzerren, dann ist das ein Problem.

GWB § 19 Abs. 2

In Paragraph 19 Absatz 2 GWB wird die Marktbeherrschung definiert. Ein Unternehmen gilt als marktbeherrschend, wenn es keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine überragende Marktstellung einnimmt. Diese Definition ist entscheidend, um festzustellen, ob das Verhalten eines Unternehmens, wie im Falle Berlins als Nachfrager von Bauleistungen, durch das Kartellrecht reguliert werden muss. Einfach gesagt, wenn ein Unternehmen so groß ist, dass es den Markt nach Belieben beeinflussen kann, dann schauen die Kartellbehörden genau hin.

GG Art. 9 Abs. 3

Der Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) schützt die Koalitionsfreiheit, also das Recht, sich zu Vereinigungen zusammenzuschließen oder diesen fernzubleiben. Diese Freiheit umfasst sowohl die positive als auch die negative Koalitionsfreiheit. Im Kontext der Tariftreueerklärung ist dieser Artikel relevant, da die Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Tarifverträge ohne eigene Tarifbindung die negative Koalitionsfreiheit der Unternehmen beeinträchtigen kann. Stellen Sie sich vor, jemand zwingt Sie, einem Club beizutreten, den Sie nicht mögen – darum geht es hier.

GG Art. 74 Abs. 1 Nr. 12

Artikel 74 Absatz 1 Nummer 12 GG betrifft die konkurrierende Gesetzgebung im Bereich des Arbeitsrechts. Das bedeutet, dass sowohl der Bund als auch die Länder Gesetze in diesem Bereich erlassen können, solange der Bund nicht bereits abschließend geregelt hat. In Bezug auf das Berliner Vergabegesetz wurde diskutiert, ob das Land Berlin die Kompetenz hatte, eine Regelung zur Tariftreue zu erlassen, die faktisch eine teilweise Allgemeinverbindlichkeit tariflicher Regelungen bedeutet. Einfach gesagt: Es handelt sich um die Frage, wer das Sagen hat – Berlin oder der Bund?

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KVR 23/98 Urteilsgrundlagen

Grundsätzliche Auslegung

GWB § 20 Abs. 1

GWB § 20 Abs. 1 befasst sich mit dem Diskriminierungsverbot im Rahmen des Wettbewerbsrechts. Grundsätzlich bedeutet dies, dass marktbeherrschende Unternehmen (Unternehmen mit beträchtlicher Marktmacht) ihre Stellung nicht nutzen dürfen, um andere Marktteilnehmer ungerechtfertigt zu benachteiligen. Im Kontext von Bauleistungen bedeutet dies, dass ein Nachfrager, der einen erheblichen Anteil des Marktes kontrolliert, keine Bedingungen stellen darf, die bestimmte Anbieter systematisch ausschließen oder benachteiligen.

GWB § 19 Abs. 2

GWB § 19 Abs. 2 definiert, wann ein Unternehmen als marktbeherrschend gilt, insbesondere wenn es keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist oder eine überlegene Marktstellung hat. Im Straßenbau wäre dies der Fall, wenn ein Auftraggeber wie ein Bundesland wesentliche Teile der öffentlichen Aufträge kontrolliert und damit den Marktzugang für andere Anbieter erheblich beeinflussen kann.

GG Art. 9 Abs. 3

GG Art. 9 Abs. 3 schützt die Koalitionsfreiheit, also das Recht, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden beizutreten oder fernzubleiben. Grundsätzlich bedeutet dies, dass der Staat keine Maßnahmen ergreifen darf, die Arbeitnehmer oder Arbeitgeber zwingen, bestimmten tariflichen Bedingungen zu folgen, wenn sie nicht freiwillig Tarifparteien sind.

GG Art. 74 Abs. 1 Nr. 12

Dieser Artikel regelt die konkurrierende Gesetzgebung im Arbeitsrecht, einschließlich des Tarifvertragsrechts. Der Bund hat hier Vorrang, was bedeutet, dass Länder nur dann eigene Regelungen treffen dürfen, wenn der Bund nicht abschließend geregelt hat. Dies sichert eine einheitliche Rechtslage im gesamten Bundesgebiet.

Ausnahmsweise Auslegung

GWB § 20 Abs. 1

Ausnahmsweise kann GWB § 20 Abs. 1 so ausgelegt werden, dass bestimmte diskriminierende Maßnahmen zulässig sind, wenn sie durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sind. Im Fall der Tariftreueerklärung könnte dies etwa der Schutz lokaler Arbeitsplätze sein, sofern dies verhältnismäßig und angemessen erfolgt.

GWB § 19 Abs. 2

Eine Ausnahme von der Marktbeherrschung nach GWB § 19 Abs. 2 kann gemacht werden, wenn der relevante Markt so definiert wird, dass trotz eines hohen Marktanteils wesentlicher Wettbewerb von anderen Marktteilnehmern ausgeht. Dies könnte bei einer starken Präsenz privater Nachfrager der Fall sein.

GG Art. 9 Abs. 3

In Ausnahmefällen kann in die negative Koalitionsfreiheit eingegriffen werden, wenn dies zur Sicherung übergeordneter sozialpolitischer Ziele notwendig ist. Solche Eingriffe müssen jedoch durch ein Gesetz klar geregelt und durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt sein.

GG Art. 74 Abs. 1 Nr. 12

Eine Ausnahme von der konkurrierenden Gesetzgebung könnte vorliegen, wenn spezifische regionale Verhältnisse eine abweichende Regelung rechtfertigen. Dies erfordert jedoch eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung, die im Einklang mit den bundesrechtlichen Vorgaben steht.

Angewandte Auslegung

In diesem Fall wurde die grundsätzliche Auslegung der relevanten Rechtsvorschriften angewandt. Das Gericht hat festgestellt, dass das Land Berlin mit seiner Praxis der Tariftreueerklärung gegen die Grundsätze des GWB verstößt, da es als marktbeherrschender Nachfrager handelt. Die Regelung im Berliner Vergabegesetz wurde als unzulässig erachtet, da sie weder mit dem GWB noch mit der negativen Koalitionsfreiheit des GG vereinbar ist. Die Norm wurde zudem als unzulässig angesehen, da sie in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes eingreift, ohne dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage auf Landesebene besteht.

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Tariftreueerklärung Lösungsmethoden

KVR 23/98 Lösungsmethoden

Im Fall KVR 23/98 wurde entschieden, dass die Praxis des Landes Berlin, nur Unternehmen mit einer Tariftreueerklärung für öffentliche Aufträge zu berücksichtigen, gegen die geltenden gesetzlichen Bestimmungen verstößt. Das Bundeskartellamt hatte diese Praxis beanstandet und das Kammergericht bestätigte diese Entscheidung. Somit war der Weg über das gerichtliche Verfahren der richtige Ansatz, um gegen die diskriminierende Praxis vorzugehen. Unternehmen, die von ähnlichen Vorgaben betroffen sind, sollten erwägen, rechtliche Schritte einzuleiten. Bei komplexen und weitreichenden Fragestellungen, wie sie hier vorlagen, ist es ratsam, einen spezialisierten Anwalt zu konsultieren, um eine fundierte rechtliche Strategie zu entwickeln und die Chancen vor Gericht zu maximieren.

Ähnliche Falllösungen

Öffentlicher Auftraggeber verlangt Tariftreue

In einem Fall, in dem ein öffentlicher Auftraggeber die Einhaltung von Tariftreue fordert, ohne gesetzliche Grundlage, sollten betroffene Unternehmen zunächst versuchen, eine einvernehmliche Lösung mit dem Auftraggeber zu erzielen. Wenn dies nicht möglich ist, kann ein gerichtliches Verfahren eine wirksame Lösung sein, insbesondere wenn die Erfolgsaussichten hoch sind. Die Hinzuziehung eines Anwalts ist in solchen Fällen ratsam, um die rechtlichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen.

Regionale Marktstellung beeinflusst Tariftreue

Wenn die Tariftreueerklärung von einem regionalen Auftraggeber gefordert wird, der eine marktbeherrschende Stellung innehat, könnte eine Beschwerde beim Bundeskartellamt ein geeigneter Schritt sein. Die rechtliche Prüfung und die Einleitung eines Verfahrens können hier dazu beitragen, die Wettbewerbsbedingungen zu klären. Unternehmen sollten prüfen, ob ihre Marktstellung argumentativ genutzt werden kann, um die Forderung zu hinterfragen.

Kleine Anbieter im Wettbewerb benachteiligt

Kleinere Anbieter, die durch Tariftreueforderungen benachteiligt werden, könnten zunächst versuchen, Unterstützung durch lokale oder branchenbezogene Verbände zu erhalten. Sollte dies nicht ausreichen, wäre ein kollektiver Ansatz, bei dem mehrere betroffene Unternehmen gemeinsam rechtliche Schritte erwägen, sinnvoll. Dies könnte die Kosten senken und die Erfolgschancen erhöhen. Eine anwaltliche Beratung ist auch hier von Vorteil.

Vergabe ohne gesetzliche Tariftreuepflicht

Wenn ein Auftraggeber Tariftreue fordert, obwohl keine gesetzliche Pflicht dazu besteht, sollten Unternehmen die rechtlichen Grundlagen prüfen und den Dialog mit dem Auftraggeber suchen. Ist keine Einigung möglich, könnte eine gerichtliche Klärung angestrebt werden. Einzelne Unternehmen können zunächst rechtlichen Rat einholen, um die Erfolgsaussichten eines Verfahrens zu bewerten und gegebenenfalls mit Unterstützung eines Anwalts vorzugehen.

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FAQ

Was ist Tariftreue?

Tariftreue bedeutet die Verpflichtung, die in Tarifverträgen festgelegten Löhne und Arbeitsbedingungen einzuhalten.

Wer betrifft die Tariftreue?

Tariftreue betrifft Unternehmen, die öffentliche Aufträge erhalten wollen, insbesondere im Bauwesen.

Wie wirkt sich Tariftreue aus?

Tariftreue kann den Wettbewerb beeinflussen, indem sie Unternehmen mit niedrigeren Löhnen ausschließt.

Was bedeutet diskriminierend?

Diskriminierend bedeutet, dass bestimmte Unternehmen ungleich behandelt werden, ohne sachlichen Grund.

Was ist Marktbeherrschung?

Marktbeherrschung liegt vor, wenn ein Unternehmen den Markt dominierend beeinflussen kann.

Warum ist Tariftreue umstritten?

Tariftreue ist umstritten, weil sie als wettbewerbsbeschränkend und diskriminierend angesehen werden kann.

Wie schützt man Wettbewerbsfreiheit?

Wettbewerbsfreiheit wird durch Gesetze geschützt, die Diskriminierung und Marktmissbrauch verhindern.

Welche Gesetze sind relevant?

Relevante Gesetze sind das GWB (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) und das TVG (Tarifvertragsgesetz).

Warum wird Tariftreue gefordert?

Tariftreue wird gefordert, um faire Arbeitsbedingungen und Löhne zu gewährleisten.

Welche Ausnahmen gibt es?

Ausnahmen von der Tariftreue können bestehen, wenn gesetzliche Grundlagen fehlen oder Wettbewerbsfreiheit stärker gewichtet wird.

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